Thomas Niedzwetzki Der Unterton Roman
Der Autor dankt: Dr. Wolfgang Gabler und dem Literaturhaus Rostock. Martin Ebert und dem Grünberg Verlag.
Für Noah, Lou und Mael
7 1. Teil Jo und Ben
9 Der Irrtum Endhaltestelle Neuer Friedhof. Irdisches Quietschen am schmiedeeisernen Eingangstor. Ein Geruch verrottender Blätter erfüllte die Luft, und die tief stehende Oktober- sonne blendete. Eine junge Familie, dicht gedrängt um ein winziges Grab. Wie barmherzig war dieser Gott, der einer Mutter das Kind nahm, und wie zynisch die Phrase, dass alles seine Zeit habe? Der Tod war doch immer ein Irrtum. Na ja, vielleicht nicht immer. Die hier im nächsten Grab war zumindest schon über neunzig. Am Ende der Lindenallee eine Gruppe Jugendlicher unschlüssig vor einem Berg aus verwelkten Blumen und Kränzen. Die meisten auffallend in Nicht-Jeans gekleidet. Genau wie der schlaksige Typ mit seinem Blumengebinde, der zögernd dazukam. Schweigend öffnete die Versamm- lung der Lebenden dem Zuspätgekommenen eine Gasse zum Grab. Die Blumen fielen auseinander, als er sich bückte, und für einen Moment sah es aus, als ducke er sich unter einer Welle aus Trauer, die über ihm zusammenschwappte. Stumm verharrte er eine Weile, raffte sich dann mühsam auf und ging vorsichtig rückwärts, den Blick wie hypnotisiert auf das geschmückte Grab gerichtet. Die Gasse vor ihm schloss sich wieder. Er drehte sich um und hastete davon. Die anderen tuschelten. Golden glänzten die eingravierten Daten auf der schwarzen Stele: gest. 21. 9. 1989. Der war gerade mal Anfang zwanzig. Noch ein Irrtum?
10 Jo Josef Torowski wurde im Sommer des Jahres 1968 als jüngstes von vier Kindern seiner Familie geboren. In einem Land, in dem man vorgab, auf aller Wohlergehen bedacht und gewillt zu sein, Raum zu schaffen für jeden, Großes zu vollbringen. Es war die Zeit, als man hierzu- lande noch mit pharisäischer Inbrunst den Wunsch nach »Deutschland, einig Vaterland« besang. Doch vieles von dem war schon nicht mehr wahr, als er – entgegen dem Wunsch seiner Eltern, den schmächti- gen Jungen noch um ein Jahr zurückstellen zu lassen – mit sechs zur Schule kam. Also war er stets der Jüngste oder der Kleinste. Manchmal auch beides. Kaum einer wusste seit wann genau, doch immer schon nannte man ihn Jo. Nicht wie das amerikanische »Joe«, nein, einfach nur Jo. »J« und »o«. Jo. Und als ihn seine Lehrerin zur Einschulung mit »Josef« aufrief und ob er nicht ein paar Worte über sich selbst sagen möge, fühlte er sich überhaupt nicht angesprochen. Seine Kindheit war in ein Dorfuniversum gebettet, mitten im mecklenburgischen Nirgendwo, eingerahmt von Wiesen und Wäldern. Sanfte Hügel erhoben sich zu beiden Seiten des Tals. Zwischen Kindergarten und Schule, Sportplatz und Bäcker, Konsum und Dorfkneipe, pulsierte das Leben dieser Gemeinschaft, vereint im Stre- ben nach einer Zukunft, in der irgendwann jeder nur noch seinen Bedürfnissen entsprechend leben würde. Bis dahin sei es noch ein beschwerlicher Weg, sagten sie und waren doch guten Mutes. Denn wenn bis 1990 das Wohnungs- bauproblem erst gelöst wäre, so der abendliche Tenor in der Dorfkneipe, dann konnte es doch nicht mehr allzu
11 weit sein. Bis zum Kommunismus. Und im unerschütter- lichen Glauben daran ließ sich die Gegenwart leicht ertra- gen. „Prost! Walter, noch vier Helle und vier Kurze!“ Erste Schatten legten sich auf die Idylle des Kindes, als man seine Musikalität erkannte und bestimmte, ihm eine klassische Klavierausbildung angedeihen zu lassen. Der eben noch Fünährige fuhr nun einmal in der Woche mit seiner Mutter im Bus in die nahe gelegene Bezirksstadt, wo sie ihre Einkäufe für die Familie abarbeitete. Danach begleitete sie ihn zum Unterricht, den Zurückweichenden an der Hand, der sich umso mehr von ihr ziehen ließ, je näher sie der Baracke am Rande der gesichtslosen Stadt kamen. Der Unterrichtsraum bot gerade genug Platz für das leicht verstimmte Klavier, zwei Hocker und ein Beistell- tischchen. Hier erwartete ihn Ludmilla: klein und drall, eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren. Und sie drohte ihm: »Wenn du gleine Fingerr nicht gruum machst, ich muus gleine Fingerr weichgoochen!« Derart eingeschüchtert lernte Jo schon bald, die ihm aufgebürdeten Lektionen als etwas Unabwendbares hin- zunehmen, dem er sich zu fügen hatte wie Zahnarztbesu- chen. Und während er auf dem Rand der Klavierbank den Unterricht aussaß, lugte er vorsichtig zu seiner Lehrerin auf, sich die Zeit damit vertreibend, zu beobachten, wie die Schminke in den Fältchen um ihre Augen in tausend winzige Stücke zerbröckelte. Einmal, anlässlich seines siebten Geburtstages, bat ihn Ludmilla zu sich nach Hause. Jo betrat das Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung. Ein Flügel mit kariösen Tasten ragte aus dem Eichenparkett
12 auf wie ein Altar. Ölfarbe blätterte von den Wänden, und die Decke hing dunkel wie eine Gewitterwolke hoch oben im Raum. Mittendrin seine Lehrerin, matronenhaft und überquellend, im armfreien Sommerkleid, matroschka- rundes Rouge auf den Wangen. Sie hatte ein Kränzchen vorbereitet mit allerlei Leckereien. Doch bevor er sich darüber hermachen durfte, entnahm sie dem Regal ihrer Schrankwand ein Notenbuch: das erste Klavierkonzert op. 11 in e-Moll, von Frédéric Chopin. Ihm daraus vorzuspie- len, sollte seine Geburtstagsüberraschung werden. Ludmilla strich mit Fingerspitzen über die Noten und winkte dem Siebenjährigen, sich neben sie auf die Bank zu setzen. Lackschwarze Kinderschuhe schlenkerten vor sich hin, und auf dem Tisch lockte russisches Konfekt, zu dem der brav Seitengescheitelte unablässig hinüberschielte. Als sie zu spielen begann, saß er mit eingezogenen Schultern neben ihr, eingehüllt in eine Wolke aus Parfüm und Achselschweiß. Und schon bald fielen ihm die Augen zu. Sein blond gerahmtes Engelsgesicht erschlaffte, und Ludmilla nahm ihn mit auf eine Reise. Bilder taten sich vor ihm auf. Ein Karussell von Fabelwesen drehte sich, immer schneller, bis es plötzlich, auf dem Gipfel eines fulminanten Crescendo, mit einer krachenden Dissonanz zum Stehen kam. Jo schrak auf, sah seine Lehrerin schwer atmend auf die Noten starren. Eine Hand auf ihr wogendes Dekol- leté gepresst, schlug sie das Buch mit der anderen zu, als müsse sie den Geist, der gerade daraus entweichen wollte, zurückdrängen. Vollgestopft mit Süßigkeiten machte sich Jo wenig später wieder auf den Heimweg. Obwohl das Klavierüben seine kostbare Freizeit auf dem Fußballplatz beschnitt, harrte er klaglos aus. Jo
13 erzählte auch nichts von der Begebenheit in Ludmillas Wohnung. Fast unbemerkt entwuchs er den Lackschu- hen. Jedoch spürte seine Mutter die Beklemmung ihres Jüngsten vor jeder Klavierstunde und meldete ihn in der dritten Klasse von der Musikschule ab. Etwa ein Jahr später ging das Gerücht, Ludmilla hätte ver- sucht sich umzubringen. Mit einem Küchenmesser. Dass sie sich die Pulsadern aufgeschnitten und nur knapp über- lebt habe, gärte es. Jos Mutter meinte, Ludmilla stamme aus Moskau, sagte, sie sei mit einem deutschen Offizier verheiratet. Und Jo dachte, sie wäre besser in der Sowjet- union geblieben und dass sie es wohl nicht ertragen hatte, ihr Leben damit zu vergeuden, lustlose Kinder wie ihn zu unterrichten. In der Folgezeit erschien ihm Ludmilla mehrmals im Traum, mit hoch aufgesteckter Frisur, sitzend an einem Flügel, vor den leeren Rängen eines Konzertsaals. Ein Sei- denband bedeckte ihre Augen und über allem schwebte ein Kronleuchter. Die Bezüge der Stühle um sie herum glänzten karmesinrot.
14 Jagenow Die Sommer verbrachte Jo zumeist bei den Großeltern in der Uckermark. Kurz vor den großen Ferien der sechsten Klasse verkündete seine Mutter, die Partei habe Vater mit einer Reise ausgezeichnet, und sie würde mit ihm gemein- sam für einen Monat ans Schwarze Meer fahren, nach Sotschi. Der Familienrat bescherte Jo in diesem Jahr volle sechs Wochen Jagenow. In dem kleinen Ort, nur eine Autostunde von seinem alten Leben entfernt, leuchtete die Sonne seiner Kind- heit. Die Uhren tickten an jenen Sommertagen langsa- mer. Wann immer er wollte, radelte er mit Großmutters Damenrad quer durch kornblumendurchsetzte Wei- zenfelder zum Waldsee. Vom Steg, den sein Großvater gezimmert hatte, tauchte er kopfüber ein und erforschte mit weit aufgerissenen Augen die Unterwasserwelt, bis Adrenalin ihn wieder an die Oberfläche trieb und er wie ein Pfropfen aus dem Wasser schnellte, um mit einem laut hörbaren Zug die Lungen wieder mit Sauerstoff zu füllen. Ausgekühlt und erschöpft fiel er später mit den anderen ins Gras. Und während sich ihre Lippen wieder rot färb- ten, träumten sie sich auf die Gipfel der Cumuluswolken- gebirge, die in der Mittagsglut am azurblauen Himmel über dem See erstarrt waren. Jagenow war nicht wie sein Heimatdorf. In diesem hier genoss das schmächtige Kind bei den anderen Exotensta- tus, denn für die war er der Besucher von weit weg. Gleich neben dem Gehöft der Großeltern, auf dem Landmaschinenfriedhof der Genossenschaft, trafen sie sich allabendlich und spielten zwischen ausgemusterten Traktoren Verstecken. Bis es dunkel wurde. Danach saßen
15 sie barfüßig um Jo herum, der im Mondschein Geschich- ten erzählte. Die anderen lauschten mit offenen Mündern und überboten sich daraufhin gegenseitig mit halb erleb- ten oder erdachten Begebenheiten. Später hatten sie Mühe, einander im Dunkeln über- haupt noch zu erkennen und stolperten im Schummer- licht der Straßenlaternen nach Hause, wo sie mit ihren vor Dreck starrenden Füßen heimlich ins Bett krochen. Nur wenige Stunden später dämmerte bereits ein weite- rer unbeschwerter Morgen in der Uckermark, der weder Wecker kannte noch Ermahnung; nur warmen Kakao und Honigbrötchen. An einem dieser Ferientage begleitete Jo seinen Großva- ter in die Moorwiesen, um Weidenholz zu holen. Es hatte eben geregnet, doch die Vormittagssonne arbeitete sich bereits Strahl für Strahl voran und ließ die aufgeweichte Erde dampfen. »Na komm schon, kleiner Mann, wir müssen los! Wird ein heißer Tag heute«, mahnte Großvater. Jo ließ sich nicht drängen, stand auf der Treppe und blinzelte in das Licht. Wie ein Regenbogen schillerte es in allen Farben, und er tauchte die uckermärkische Land- schaft nach Belieben in Sepia. Erfasst von innerer Ruhe stand er einfach nur da, trödelte und dachte an den Roman, den er am Vorabend ausgelesen hatte. Nikolai Ostrowski: »Wie der Stahl gehärtet wurde«. Großmutter hatte ihn erwischt und geschimpft, dass er für so ein Buch noch viel zu klein sei. Aber er las mit der Taschenlampe heimlich unter der Bettdecke weiter von den Heldentaten Pawel Kortschagins in der Roten Armee. Und er dachte an seinen Großvater, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war, wie ihm seine Oma erzählt hatte.
16 Opa und Enkel stiefelten los in die Wiesen. Die sti- ckige Luft war erfüllt von den Gerüchen des Sommers, und mitten in all das Zwitschern und Zirpen platzte es endlich aus Jo heraus. »Opa? Du warst doch Soldat im Krieg. Hast du da eigentlich welche getroffen?« »Wie meinst du das?« »Mit deinem Gewehr, hast du da auch welche von den Faschisten getroffen?« Großvater stoppte. Auf einmal war er wieder mit- tendrin im jahrzehntelang verdrängten Horror. Erst die Durchhalteparolen von Paulus, und dann war ihm, als brenne ihm die Kehle vom Fusel für die Freiwilligen der Exekutionskommandos. Der Hals schnürte sich ihm zu. Er sah sich über erfrorene oder von Granaten zerfetzte Landser stolpern. Bilder aus der Zeit nach der Kapitula- tion kamen hoch, aus der Kriegsgefangenschaft, als die Übriggebliebenen verreckten wie die Fliegen. Dazwischen er, der dank Extrarationen überlebte, die sie ihm gaben, weil sie ihn brauchten, weil er als Tischler die Särge für die Kameraden zusammenzimmern sollte ... »Opa?« Der alte Mann sah auf sein Enkelkind und schluckte. »Ach ... ich glaub nicht«, brummte er schließlich und ging schweren Schrittes weiter. »War wohl kein guter Schütze.« Dass sein Großvater wieder total untertreiben würde, dachte Jo. Er hatte von dem gutmütigen Mann mit den goldenen Händen auch nichts anderes erwartet. Hatte er ihn doch erst eine Woche zuvor angebettelt, ihm in seiner Stellmacherei ein Gewehr zu bauen. So eins, wie das von Gojko Mitić. Aber er zierte sich: »Weiß nicht, mal sehen«, murmelte er.
17 Am Abend erschien Großvater nicht zum Essen und am nächsten Morgen lehnte das Ding wie zufällig abge- stellt am Frühstückstisch. Es war noch schöner, als Jo es sich hatte vorstellen können; mit kleinen Halterungen für einen Gurt, einem gebogenen Nagel, der wie ein richtiger Abzug aussah, sogar Kimme und Korn aus Aluminium. Und jetzt wollte er ihm weismachen, er wäre ein schlech- ter Schütze gewesen? Zwei Wochen später rollten seine Eltern mit ihrem Dacia vor. Es hagelte Vorwürfe, Jo hätte nicht ein einziges Mal auf ihre Briefe geantwortet. Aber war das ein Wunder? Hatte er doch gerade sechs Wochen im Paradies verbracht. Es war der bis dahin beste Sommer seines Lebens.
18 Levon Bis er dreizehn war, verbrachte Jo seine Freizeit fast aus- schließlich auf dem Fußballplatz. Doch dann kam der Tag, als ihm seine beiden älteren Brüder in Aussicht stell- ten, in ihre Band einsteigen zu dürfen. Aber nur wenn es ihm gelänge, innerhalb eines Jahres Schlagzeug spielen zu lernen. Jo hängte daraufhin seine Fußballschuhe an den Nagel und tauschte sie gegen Trommelstöcke. Nun schleppte er täglich ein klobiges Tonbandgerät zum Proberaum. Zwanzig Minuten brauchte er bis zur Baracke am Dorfende. Sein Weg führte vorbei an ehema- ligen Tagelöhnerkaten. Moosinseln zierten deren Reetdä- cher wie Landkarten, und manche Sprosse der winzigen Fenster wurde nur noch durch ein Gemisch aus Ölfarbe und Kitt zusammengehalten. An einigen Häusern hatte man die Öffnungen vergrößert und von allen Seiten mit Zement angeputzt. Jetzt strahlten weiße Standardfenster aus den unglücklichen Fassaden, und zwischen all den Katen prangten mit Wellasbestplatten gedeckte Eigen- heime. Auf der Dorfstraße lauerten nach jedem Regen hin- terlistige Schlaglöcher in den tagelang stehenden Pfüt- zen. Und wenn am Nachmittag die Trecker wie an einer Perlenschnur vom Acker zum Stützpunkt zurückkehr- ten, bugsierten die Fahrer ihr Gerät vorsichtig um den schmächtigen Jungen am Straßenrand, von dem sie wuss- ten, es ist der Jüngste vom Vorsitzenden. Jo übte auf einem Drumset aus den fünfziger Jahren, das seine Brüder in den Katakomben des Kreiskulturhauses entdeckt und in dem ehemaligen LPG-Büro am Dor- fende für ihn aufgebaut hatten. Die von seinem Großvater
19 gedrechselten Birkenholzstöcke sahen fast aus, wie richtige Drumsticks. Anfangs erzeugte er damit nur ein Scheppern auf den billigen Becken und fragte sich, ob es an ihm oder dem Material läge. Doch mit seinen Fähigkeiten verbes- serte sich auch der Sound. Einen richtigen Schlagzeuglehrer hatte er nicht, nur den Drummer der Band, der ihm ein paar Grundrhyth- men zeigte. Was er üben musste, suchte er sich selbst auf den Bändern eines Tonbandgerätes. Im RIAS und beim SFB hatten seine Brüder eine ganze Enzyklopädie der Rockmusikgeschichte der sechziger und siebziger Jahre aufgenommen. Hier lernte er von den besten Drummern der Welt: John Bonham, Frank Beard, Stewart Copeland oder Charlie Watts. Jo stürzte sich mit Verve auf die Suche nach dem Geheimnis seiner neuen Idole, spulte wieder und wieder zurück, bis er meinte, auch die letzten ghost notes ent- schlüsselt zu haben. Und immer wenn es gelang, war es ein erhebendes Gefühl, das ihn an jenen Abenden nach Hause trug. Meist war es dunkel, wenn er den Heimweg antrat. Er knipste die surrende Neonbeleuchtung im Büro aus, wartete einen Augenblick, bis sich die Augen an das Dämmerlicht der Straßenlaternen gewöhnt hatten und startete mit seinem Tonbandgerät in die Nacht. Saurer Silagedunst wehte von den Offenställen herüber. Durch die Fenster sah er Dorfbewohner an Abendbrottischen in den Wohnstuben vor Fernsehern, von denen einige in Farbe strahlten. Manchmal konnte er kaum die Hand vor Augen erkennen. Knackte es im Unterholz, beschleunigte er seinen Schritt und erschauerte, wenn er in den milchi- gen Schleiern um sich herum den Erlkönig zu erkennen glaubte.
20 Atemlos kam er dann zu Hause an – der Tisch war längst abgeräumt – und aß, was seine Mutter ihm zurück- gestellt hatte. Nebenbei sah er in vertrauter Runde die Aktuelle Kamera und war beruhigt, denn es waren gute Nachrichten, die ihn Abend für Abend in der Gewissheit wiegten, im besseren Teil der Welt zu leben. Max, der Zweitälteste, war ihm von seinen Brüdern am nächsten. Er sah ein bisschen aus wie der Sänger der Rolling Stones, was ihm den Spitznamen »Mick« einbrachte. Mit einer tschechischen E-Gitarre und Hartnäckigkeit hatte er es weit gebracht. Einmal im Monat fuhr er mit seinem Moped in die Bezirksstadt zum Musikantenklub, wo er mit gestandenen Musikern auf Jamsessions spielte. So was wollte Jo auf dem Schlagzeug irgendwann auch. An den Wochenenden, wenn Mick von der Lehre nach Hause kam, improvisierten sie stundenlang und diskutier- ten bis spät in die Nacht. Mick dozierte über Musik, die er Jo vom Band vorspielte, während Jo versuchte zu verste- hen, was Mick mit dem Tausendstel meinte, das die Snare immer vor dem Beat da zu sein hatte, und was es hieß, tight zu sein und drive zu haben. »Spiel das doch mal mit feeling!«, war eine der Lieb- lingsforderungen seines älteren Bruders. Nur was bedeu- tete das jetzt genau? Jo trommelte mit seinen Birkenholzstöcken drauflos, verrenkte sich, spielte mal lauter, mal leiser oder schneller, in der Hoffnung, das feeling würde sich schon irgendwie einstellen. Dann rief Mick auf einmal: »Ja, genau so!« Aber Jo hatte überhaupt nicht begriffen, was er jetzt anders gemacht hatte als vorher. Und so rückte sein hartnäckig verfolgtes Ziel, endlich ein richtiger Drummer zu werden, um ein weiteres Stück in die Ferne. Bis ihn Mick eines Abends mit ins Kino nahm.
21 Die verschnörkelte Leuchtreklame der Alto-Lichtspiele über dem Eingang des Kinos der Kreisstadt erstrahlte rot. Das Plakat im Aushang kündigte einen amerikanischen Konzertfilm an: e last waltz. Die beiden Brüder saßen in unbequemen Samtsesseln, direkt vor der Leinwand. Der Vorhang öffnete sich, und Magie erfasste Jo von Anfang an. Auf der Konzertbühne sah er Robbie Robertson, der mit seiner Gitarre wie ein Kapellmeister an vorderster Front hoch konzentriert die Musiker um sich herum anheizte. Zu seiner Rechten schaukelte Rick Danko am Bass wie ein aufgezogenes Spielmännchen. Und mittendrin saß Levon Helm, der die Band, e Band, mit seinen Drums vor sich her trieb. Mick stieß ihn von der Seite an: Das hatte Drive! Das war tight! Dieser Mann war nicht irgendein Drummer: Levon Helm war ganz und gar Rhythmus! »e night, they drove old Dixie down«, eine Hymne erklang später, und Jo lernte, dass Conny Kramer im Original Virgil Cane hieß, und nicht an einer Überdosis gestorben war, wie Juliane Werding weismachen wollte, sondern im amerikanischen Befreiungskrieg gekämpft hatte, wie Mick ihm wenig später in einer ihrer nächtli- chen Sitzungen erklärte. Noch am gleichen Abend verlagerte Jo sein Gesangs- mikrofon auf die rechte Seite, genau wie das von Levon, und meinte, ihm damit schon ein bisschen näher zu sein. Er versuchte, den Drumstick in der linken Hand wie sein neues Vorbild, in Jazzermanier zu halten, was gründlich misslang. Aber er ließ sich fallen, wurde eins mit der Musik, und was er spielte, wurde tight. Es fand das ent- scheidende Tausendstel, von dem Mick immer gespro- chen hatte.
22 Ein halbes Jahr später war er der jüngste Schlagzeuger weit und breit, der je mit einer Rockband auf der Bühne gestanden hatte. Die beiden Brüder einte ein blindes musikalisches Verständnis, das sich schon bald live in den Kneipensälen der Nachbardörfer zeigen sollte. Von ihrem Jugendweihegeld kauften sich Jos Mitschüler Mopeds. Er dagegen erstand ein nagelneues Schlagzeug und fuhr weiterhin mit dem Bus. Die Gagen des ersten Jahres seiner Musikerlaufbahn tauschte er eins zu zehn in Westmark um, und seine Brüder organisierten ihm über undurchsichtige Kanäle aus dem Westen ein paar Paiste-Becken für seine Hi-Hat und ein Remo-Fell für die Snare. Jetzt klang das DDR-Fabrikat schon etwas mehr nach Schlagzeug. Und wenig später berichtete Mick, was man sich beim letzten Musikantenklub erzählt hatte: Es gäbe da einen neuen, duften Trommler. Einen ganz jungen. Nun lebte Jo zwar einen Traum, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er mit vierzehn Jahren immer noch aussah wie ein Kind. Er hasste sein androgynes Äußeres und die nett gemeinte Frage: »Na, bist du ein Junge oder ein Mädchen?« Sicher, ein richtiger Schlagzeuger zu sein, hatte er seinen Konkurrenten schon mal voraus, und er betrach- tete die größeren Jungs sogar ein bisschen von oben herab. Aber da waren all die drallen Mädchen aus seiner und der Parallelklasse, die er heimlich mit Blicken röntgte, von denen es stets eines gab, das ihm nachts den Schlaf raubte. Doch ausgerechnet denen war es egal, ob er Schlagzeug spielen konnte oder nicht. Im Sportunterricht turnten sie dicht an ihm vorbei und sprangen vor seiner Nase herum,
23 als wäre er unsichtbar. Also blieb ihm nichts, als abzuwar- ten, bis ein sich zufällig hebendes Sportdress Details ihrer aufblühenden Fraulichkeit freigab, welche er begierig in seinem Innersten verschloss und mit nach Hause nahm, um sie abends in der schützenden Dunkelheit seines Kin- derzimmers wieder hervorzuholen. Jo betete, endlich älter zu werden und größer, hatte Angst vielleicht jung zu sterben, ohne je von der erahnten Glückseligkeit gekostet zu haben. Und er redete sich ein, dass es doch bald so weit sein müsste, denn er war doch jetzt schon jemand, einer, der mit richtigen Musikern auf Augenhöhe arbeitete. Wenn es auch nur seine älteren Brüder waren.
24 Ben Zu der Zeit, als der vierzehnjährige Jo an seinem Puber- tätsdilemma laborierte, bewohnte die Familie von Dr. Rainer Ottmer, dem Chefarzt der Chirurgie der Uniklinik Rostock, eine elegante Altbauwohnung in der Karl-Marx- Straße. Wer die Ottmers an jenem frühsommerlichen Sonnabendnachmittag an der Kaffeetafel ihrer Veranda erlebte, hätte meinen mögen, eine Bilderbuchfamilie säße hier zusammen. Ein süßlich-erdiger Geruch von Geranien strömte durch das geöffnete Fenster. Mutter Ruth unterdrückte das Bedürfnis, Ben, ihrem Jüngsten, durch das wellige Haar zu streichen, während sich ihr Mann an Holger, den älteren seiner beiden Söhne wandte, in einem Ton, als wolle er ihn einem Initiationsritus unterziehen. »Hier mein Großer. Und ihr zwei macht mir keine Dummheiten heute Abend bei der Disko. Ist das klar?« Er warf den Ladaschlüssel lässig über den Kaffeetisch. »Wie Kloßbrühe, Papa. Danke!« Holger hatte die letzte Prüfung in der Zwölften hinter sich und den Studienplatz für Medizin an der Hum- boldt-Uni in der Tasche. Er war jetzt achtzehn und hatte seit Kurzem die Fahrerlaubnis. Ben hielt sich raus. Wie immer. Du und dein Kron- prinz, dachte er, der den unerklärten Konkurrenzkampf mit seinem Einser-Bruder längst aufgegeben hatte. Rein äußerlich waren ihnen die zwei Jahre Altersunterschied kaum anzusehen. Trotzdem fühlte sich Ben seinem älte- ren Bruder unterlegen, als Asthmatiker im Darwin’schen Sinne regelrecht aussortiert. Die Anfälle waren zwar selten, verursachten bei ihm jedoch permanent ein Gefühl
25 der Unzulänglichkeit. Mit der Zeit akzeptierten alle seine verschlossene Art. Bis auf seine Mutter. Ben selbst erinnerte sich nicht genau, wann es begann. Aber mit jedem fruchtlosen Versuch, Anschluss an sei- nesgleichen zu finden, verstärkte sich sein Phlegma. Erst recht, als sich die anderen Jungs veränderten. Alles drehte sich auf einmal um Mädchen, die bis gestern noch sau- blöd waren. Er wollte dazugehören, fing auch an zu rau- chen und hörte wieder auf damit, weil sich das Erwach- senengefühl bei ihm nicht einstellte. Später trank er hinter dem alten Wohnwagen auf dem Schulhof in der Freistunde mit den anderen Pfeffi und wurde als Einziger erwischt. Schließlich arrangierte er sich mit seiner Außen- seiterrolle. Und in dem Maße, wie die Verbindung zu seiner Umgebung abriss, zog er sich in sich selbst zurück. Er betrachtete nur noch, was er empfand, als die einzige für ihn gewisse Wirklichkeit. Dass die Schule den Adoleszenten langweilte, beför- derte seine schweren Gedanken. Wie eine Erlösung kam es ihm vor, als er mit vierzehn anfing, Tagebuch zu schrei- ben. In alte Hefte aus der vierten Klasse, die er in einem Karton auf seinem Kleiderschrank deponierte. Ein ganzes Universum war in dem Ballon seiner Emp- findungen gespeichert, den er jetzt platzen ließ. Und er war selbst erstaunt über vieles, das er sah und was er alles war, und noch mehr über alles, was er nicht war. In seiner winzigen Krakelschrift notierte er immer mehr Gedanken, konnte sie, einmal zu Papier gebracht, von außen betrach- ten, drehen und wenden. Unbequeme Stellen übermalte er mit dem Tintenkiller und schon hatte sich ein Problem weggeschrieben. »ICH HASSE MEINEN BRUDER« stand da quer über eine ganze Seite hinweg. Das war in der neunten
26 Klasse. Holger hatte bei der Bezirksspartakiade eine Gold- medaille gewonnen und er eine Woche Stubenarrest, weil seine Mutter Zigaretten im Schulranzen gefunden hatte. Später schämte er sich für diesen Satz. Sorgfältig fuhr er, Buchstaben für Buchstaben, mit dem Tintenkiller drüber. Doch der streikte. Ausgerechnet jetzt. Der Satz wollte einfach nicht verschwinden. An jenem Abend im Frühsommer, auf dem Weg zur Disko, drehte Bens älterer Bruder Holger die Scheibe herunter, ließ einen Arm aus dem Fenster hängen und berauschte sich am Fahrtwind. Von Zeit zu Zeit hämmerte er johlend auf die Hupe. Ben, mit Sonnenbrille auf dem Beifahrer- sitz, kam sich ein bisschen vor wie James Dean. Der Lada ihres Vaters lag gut in der Kurve. Später hockten die Brüder in der Dorfdisko herum, tranken Bier und aßen Bockwurst. Und Ben zweifelte, ob es eine gute Idee war, mitgekommen zu sein. Fast eine Stunde waren sie aus der Stadt bis hierher gegurkt, in die Pampa, wo sie niemanden kannten, nur damit Holger seinen Fahrriemen polieren konnte. »Ey, du musst nachher aber noch fahren«, rempelte Ben seinen Bruder an. »Das bisschen ist um zwölf wieder raus. Hab schließ- lich was zu feiern.« Holger starrte vor sich hin, und Ben ergab sich seinem Schicksal. Er sah sich um. Von den einheimischen Jungs wurden sie gemustert wie Eindringlinge, die ihnen ihre Bräute streitig machen wollten. Nach dem dritten Humpen Bier war Ben dann tatsächlich Manns genug aufzustehen. Ohne seinen älte- ren Bruder eingeweiht zu haben, steuerte er quer durch den verqualmten Dorfsaal direkt auf eine Gruppe kichern-
27 der Mädchen zu. Als er sich unmittelbar vor der aus der Ferne Auserkorenen aufbaute, wurde er mit einem her- ausfordernden Blick aus meergrünen Augen konfrontiert. Sie standen im Kontrast zu ihrem dunklen Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Beinahe wäre er unauffällig weitergeschlendert. »W-wolln wir ma tanzen?« Sie hatte ihn kommen sehen und ihren Freundinnen mit gesenktem Blick zugeflüstert, stand aber wortlos auf und folgte ihm auf die volle Tanzfläche. Eins-Zwei-Tipp, das konnte er ganz gut, besser als die meisten hier. »Ich heiß Ben und du?«, rief er ihr ins Ohr. »Jana.« »Und? Biste oft hier?« »Ich wohne hier.« »Ach so.« »Seid ihr das da draußen mit dem Lada?« »Hm, is’n Sechzehnhunderter.« »Urst schicker Schlitten.« »Ist von unserm Alten.« »Ach so.« Und dann hatte er die Idee mit den KiWis. Nach drei Titeln lud er sie an den Tresen ein und erfuhr, dass sie ein Jahr älter war, in der elften Klasse. Nach dem zweiten Doppelten stellte er fest, dass das Eis zwischen ihnen zwar gebrochen war, er sich aber mit dem Schnaps und den drei großen Pils zuvor übernommen hatte. Als Jana aufs Klo ging, verschwand er unauffällig nach draußen, in der Hoffnung, schnell wieder klar zu werden. Er torkelte aus der feuchtwarmen Hitze der Gaststätte in die kühle Nachtluft, die alles verstärkte. Von hinten wummerte die Dorfdisko und das Schein- werferlicht des Diskjockeys flackerte im Takt der Musik.
28 Riesige Schatten tanzten an den Kastanien vor dem Knei- pensaal. Ihm war schlecht. Er stolperte weiter, und vor der Friedhofsmauer, an die er zunächst noch wankend im Dunkeln gepinkelt hatte, übergab er sich, würgte unter stakkatoartigem Husten den Kuchen seiner Mutter vom Nachmittag, die Bockwurst vom Abendbrot in der Kneipe, die drei großen Pils, die Holger auf seine Fahrer- laubnis ausgegeben hatte, und die KiWis heraus. Noch ein weiteres Mal erbrach er sich, bevor er zurückschlich in den Saal, wo es wieder anfing. Jetzt schaffte er es gerade so auf die einzige Holzbox in der Männertoilette und saß danach benommen, den Kopf in beide Hände gestützt, auf dem Klositz. Bis ihn ein Rütteln an der Tür hochriss. Er flüchtete wieder nach draußen. Die Luft war klar und beruhigend. Es ging ihm besser. In einem abgetrennten Nebenraum der Gaststätte herrschte der abendliche Kneipenbetrieb für die Dorfbe- wohner. Dort fand Ben wenig später Holger, den Nicht- raucher, rauchend wieder. Er hatte sich mit ein paar älteren Einheimischen verbrüdert, die ihrem Aussehen nach direkt aus der LPG-Werkstatt oder von ihrem Tre- cker in die Kneipe gekommen waren. Sein Bruder in der gebügelten Fidschi-Jeans, das Hemd bis zum Hals zuge- knöpft, mitten unter den Traktoristen in verschmierten Arbeitsklamotten, mit denen er um die Wette soff, und die sich einen Spaß daraus machten, den Stadtjüngling abzufüllen. »Ey, wassisslss Mann, wo wsst du«, lallte er und hielt sich an Ben fest. Ben schaute, ob Jana irgendwo zu sehen war. Aber Holger brauchte ihn jetzt. Sie mussten heute Nacht wieder zurück nach Rostock.
29 Er fasste in Holgers Brusttasche, zog den Ladaschlüssel heraus und legte einen Arm um seinen Bruder, der partout bleiben wollte. »Losmn, nochn KiWi orwss?« Ben zog Holger Richtung Ausgang, der im selben Moment zurückwich. Beim Sturz mitten in die Dreier- reihe, die den Tresen wie ein Dickicht umspannte, wo durch den Qualm, über die Drängelnden hinweg, Biere und Schnäpse durchgereicht wurden, rissen sie jemanden mit, der sich gerade mit zwei großen Gläsern Pils einen Weg durch die Menge bahnte. War echt Glück, dass wir von den Dorfheinis nicht noch was auf die Fresse gekriegt haben, dachte Ben drau- ßen, als er Holger zum Parkplatz hinter die Gaststätte schleifte. Sein Bruder war nicht mehr zu gebrauchen und ließ sich willig auf die Rückbank des Ladas schieben, wo er auf die Seite fiel und sofort einschlief. Ben setzte sich auf den Fahrersitz. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, und er dachte an Jana. Als er einsah, dass Holger nicht mehr aufzuwecken war, stieg er aus und irrte zurück in den Dorfsaal. Jana saß mit suchendem Blick zwischen ihren Freundin- nen. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Ben wiedersah. Sie kam ihm entgegen auf die Tanzfläche. Es war fast zwölf und die Rausschmeißerrunde in vollem Gange; Zeit des letzten Angriffs für alle Jungs, die den Abend nicht unge- nutzt verstreichen lassen wollten. Der Diskotheker hatte den Raum in rotes Schummer- licht getaucht, und Ben umfasste schüchtern ihre Taille. Jana legte ihre Arme um seinen Hals, genau wie die meis- ten anderen um sie herum. Still loving you-ou-ou-ou, still loving you-ou-ou-ou. Im Schutz der Dunkelheit wurde er mutiger. Vorsichtig ließ er eine Hand bis zu ihrem Schulterblatt hinaufwan-
30 dern und zog sie an sich. Er spürte ihre Brüste an seinem Oberkörper und die glasigen Blicke der anderen Jungs, den Verlierern des Abends, die unschlüssig am Rande der Tanzfläche herumstanden. Jana presste ihr Becken an seins, und Robert Plant schmachtete: ere’s a lady who’s sure, all that glitters is gold, and she’s buying a stairway to heaven ... Ihr Gesicht hatte sie an seiner Schulter vergraben, und als sie ihren Kopf hob, streifte sie seinen Hals mit ihren Lippen. Sie hielt dicht vor ihm inne. Hitze, die sich zwi- schen ihnen gestaut hatte, wallte auf. Glühende Gesichter näherten einander in Zeitlupe, und Ben spürte, dass sie nicht zum ersten Mal tat, was sie tat, als ihre Zunge nach wenigen Sekunden begann, seine heftig zu umkreisen. Sie schmeckte nach einer Mischung aus Kaugummi, Zigaret- ten und Kirsch-Whisky. Punkt zwölf war es vorbei. Die Deckenbeleuchtung wurde eingeschaltet, und das Neonlicht blendete die Tanzenden im Saal. Stimmengewirr und Stühlescharren holten sie in die Wirklichkeit zurück. Die Menge auf der Tanzfläche löste sich auf, und Ben fühlte sich, als hätte man Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Eilig zog er sein Hemd aus der Hose und ließ es locker nach unten fallen. Das war sowieso gerade in. »Und jetzt?« »Ich warte draußen«, presste sie ihm feucht ins Ohr und ließ ihn stehen. Im Gedränge der Gäste sah er sie Richtung Friedhof verschwinden. Ben folgte ihr ins Dunkel. Je weiter er sich vortastete, umso stiller wurde es um ihn herum. Bis er nur noch seine eigenen Schritte hörte. Plötzlich, am Friedhof, etwa da, wo er sich übergeben hatte, vernahm er ein Flüstern dicht neben sich.
31 »Ich bin es.« Im selben Augenblick griff eine unsichtbare Hand nach ihm und zog ihn an die Feldsteinmauer. Wie ein stummes Tier machte sie weiter, wo sie auf der Tanzfläche aufgehört hatte. Eine egoistische Zunge suchte nach etwas in seinem Mund, während sich ein gieriger Schoß an seinem auf und ab bewegte. Reglos ergab er sich dem fremdbestimmten Rhythmus, wollte zwischendurch stoppen, aber er konnte nicht; bis es nicht weiter aufwärts ging und seine Starre auf einen Schlag verpulste. Sie ließ von ihm ab und drehte sich zur Seite. Beide atmeten schwer, wie nach einem kurzen, heftigen Sprint, und nassklebrig entspannte es sich in seiner Jeans. Da standen sie nebeneinander an die Friedhofsmauer gelehnt wie zwei, die das Urteil des Ringrichters erwar- teten. Ein fremdes Gesicht mit Augenringen und einer kleinen Nase flackerte kurz auf, als sie sich eine Zigarette anzündete. Aufsteigender Rauch zuckte im Nachtwind, und es hatte aufgehört zu knistern. Aus dem Halbdunkel vernahm er wieder die leise Stimme von vorhin. »Sehen wir uns wieder?« »Na klar! Nächsten Sonnabend?« »Okay. Bis nächsten Sonnabend dann ... Ben.« Sie schlenderte ohne Hast davon, drehte sich nicht mehr um und ließ ihn an der Feldsteinmauer des Fried- hofes zurück. Die wiegende Gestalt, mit der an ihrer Seite tanzenden Zigarettenglut, löste sich nach und nach in Dunkelheit auf. Ihre Schritte verhallten, und dann wurde sie von der Nacht verschluckt. Jetzt war ihm kalt. Er stolperte zurück zum Auto, das allein auf dem Park- platz hinter der Gaststätte stand. Holger lag noch immer
32 in der gleichen verkrümmten Position auf dem Rücksitz. Ben stieg ein und schloss die Augen. Wieder begann sich alles zu drehen. Hastig kurbelte er die beschlagene Scheibe der Fahrertür herunter. Belebende Kühle zog ins Fahrzeu- ginnere. »Holgi? Holgi, wir müssen los!« Sein Bruder regte sich endlich. Ben dachte an Jana, und das James-Dean-Gefühl war wieder da.
33 Rostock Kurz nach halb drei. Der Pförtner der Chirurgie des Uni- versitätsklinikums machte seinen Frieden mit der Nacht und seinem in dreieinhalb Stunden zu Ende gehenden Dienst. Herrscher über das Kabuff am Rande des milchi- gen Flures zu sein, war die Krönung eines eintönigen Berufslebens. Noch fünf Jahre bis zur Rente. »S’wird sischo nischts kroses meor gäbene, gell?«, sprach er halblaut zu sich und dem längst verstorbenen Schäferhund, den er noch immer hechelnd neben sich auf dem Fußboden wähnte. Er genehmigte sich das zweite Pfeifchen der Schicht. Ein komplett ausgefülltes Kreuzworträtsel der Wochen- post lag vor ihm auf dem Tisch, daneben penibel geführte Eingangslisten, der gut gespitzte Bleistift, die ermos- kanne, der Aschenbecher, das Diensttelefon und die Tee- tasse mit dem Zwiebelmuster. An den Innenseiten der sperrhölzernen Schreibtischtüren Bilder seiner Kinder und Enkel, mit denen er sich in der nächtlichen Einsam- keit seiner Dienste austauschte. Einsamkeit mochten es andere nennen, er nicht. Zuweilen verging ihm die Zeit sogar zu schnell, nämlich dann, wenn die erwachende Geschäftigkeit in der Chi- rurgie am frühen Morgen das baldige Ende seines Nacht- werks verkündete, obwohl er noch gar nicht fertig war, mit all den wichtigen Gedanken, die er sich im Laufe der Nacht so über die große Welt und sein Leben gemacht hatte. Vom Ende des Flures, aus der Notaufnahme, drang auf einmal hektisches Geklapper in sein winziges Büro. Mobile Bettgestelle polterten heran. Er hörte das Schnar-
34 ren der Funksprüche des nahenden Krankenwagens, der vor einer Stunde die Klinik verlassen hatte. Der Pförtner trat aus seinem Kabuff und schaute den Gang entlang. Zwei weiß bekittelte, behaubte Schwestern und der diensthabende Arzt näherten sich im Laufschritt. Jetzt erkannte er den Oberarzt. Dr. Dressler hatte Nacht- dienst. Der Pförtner rieb sich die Hände: »Na, nu wird’s wohl donnowas gäbene. Tja ja, die schiggn SMH-Bargas, ausgestaddet mibb’m neiesten bih-bah-boh ... « In der Einfahrt flimmerte es blau. Dressler rannte durch die Schwingtür. »Was haben wir?«, rief er den Rettungssanitätern ent- gegen. Eine Assistenzärztin sprang aus dem modernen Krankenwagen, in dem es noch immer nach Neuwagen roch. »Autounfall in Kessin. Zwei Schwerverletzte, männ- lich. Alkoholisiert. Wurden beide aus dem Wagen geschleudert. Verdacht auf Schädelhirntrauma und innere Verletzungen. Meiner hier ist stabil, Puls fünfundachtzig zu fünfundfünfzig, Sauerstoffsättigung achtundachtzig. Aber bei dem Nächsten sieht’s nicht gut aus. Haben schon zweimal reanimiert.« »Irgendwas zu den Personen?« »Nein, keine Ausweisdokumente. Vielleicht im Auto, aber das sah übel aus. Die Volkspolizei überprüft anhand des Nummernschildes, wer der Besitzer ist. Kann aber noch ‘ne Weile dauern.« »Gut. Schwester Heike, Sie warten auf den zweiten Krankenwagen, und Sie, Schwester Angelika, stehen mir hier zur Seite. Wir brauchen zweimal Röntgen-orax. Geben Sie durch, dass wir im Anmar... « Dr. Dressler erstarrte. »Mein Gott, Angelika ... Ange- lika! Das ist Ben, der Sohn vom Chef!«
35 Der Pförtner stand interessiert daneben. »Mann, los«, schrie Dr. Dressler den Uniformierten an, »Jetzt gehen Sie schon, und rufen Sie Dr. Ottmer an. Jetzt gleich!« In Dressler stieg es heiß auf. Er hatte gelernt, Patienten nur als das zu betrachten, was sie waren. Hier ein Problem und auf der anderen Seite er, der das Problem zu lösen hatte. Dazwischen eine Wand aus Diagnostik und era- pie. Sein Schutzschild. Aber das hier ging ihm nahe. Er sah Bens kindliches Gesicht, von der Halskrause unnatürlich nach hinten gestreckt, die Blutergüsse und die Schram- men. »Ben! Ben! Kannst du mich hören? Komm, rede mit mir, Junge, rede mit mir! Los, los, Angelika, schneller! Was macht die Röntgenabteilung?« »Alles bereit.« »Ja, mein Junge, du schaffst das, du schaffst das ...« Eigentlich brachte Dr. Ottmer das nächtliche Rasseln des Telefons schon lange nicht mehr aus der Fassung, nicht mehr nach zwanzig Jahren. Aber jetzt langte er unruhig nach dem Hörer und hoffte, seine Frau könne weiterschla- fen. »Ottmer?« Die Stimme am anderen Ende klang aufge- regt. »Jetzt beruhigen Sie sich doch, und immer der Reihe nach, ja?« Das hatte gewirkt. Der thüringische Dialekt war jetzt gut zu verstehen, und Dr. Ottmer wurde bleich. »Ruth! Ruth!« »Schatz, was ist denn? Ist was passiert?« »Schnell! Du musst mitkommen!« Der Pförtner hörte quietschende Reifen in der Zufahrt. Keine zehn Minuten nach seinem Anruf sprintete der
36 Klinikdirektor den Gang entlang und wenig später seine Frau. Schwester Angelika kam ihm auf der Station entgegen. »Er ist in der vier.« »Wer?« »Holger.« »Und Ben?« »In der eins. Jürgen sagt, Ben ist über den Berg. Aber, Chef, bei Holger sieht’s nicht gut aus ... schweres Schädel- Hirn-Trauma.« »Ruth, du wartest hier. Angelika, du hilfst mir in der vier.« Schwester Angelika fasste seinen Unterarm. »Chef, Jürgen ist doch schon da drin. Sie wissen, dass Sie das nicht tun sollten. Es ist Ihr Sohn!« »Ich ... ich muss.«
omas Niedzwetzki Der Unterton 1. Auflage, 2023 Grünberg Verlag, Weimar & Rostock www.grunbergverlag.de ISBN 978-3-933713-70-4